Die Berliner Band il Civetto hat sich im Geiste des Pop neu erfunden – und Fusion-Pop gleich dazu: Ihre universelle Mischung bricht mit westlichen Kulturklischees.
Ein Abend im Mai 2011. Bereits aus der Ferne scheint der U-Bahnhof Schlesisches Tor in Berlin zu beben. Hypnotische Beats und Melodien elektrisieren die Luft, eine unwiderstehliche Anziehungskraft geht von dem historistischen Ziegelbau aus. Im Inneren des Bahnhofs beugen sich ein paar junge Musiker über ihre Instrumente und verwandeln die Szenerie binnen Minuten in einen orgiastischen Street Rave. Schon bald drängen sich die Massen bis zur Straße und darüber hinaus, der Späti-Verkäufer kommt mit den Getränken nicht mehr nach.
Seit diesem und vielen weiteren Guerilla-Konzerten hat die Gruppe rund um Leon Keiditsch (Gesang), Dany Ahmad (Bass), Robert Kondorosi (Gitarre), Leon Bollinger (Schlagzeug & Percussion) und Lars Löffler-Oppermann (Klarinette, Saxofon, Keys) auf organische Weise eine überaus beeindruckende Entwicklung genommen, die nun in dem universellen Melting-Pop von neuen Stücken wie »Rio-Reiser-Platz« und »Neonlicht« ihren vorläufigen Höhepunkt findet – und mit „Späti del Sol“ im bislang besten Album von il Civetto gipfeln wird.
Das erste, was auffällt: Alle neuen Songs sind auf Deutsch getextet. Eine Entscheidung, die dem stilistischen Multikulturalismus der Gruppe jedoch nur scheinbar entgegensteht. Mindestens so wichtig wie ihre musikalische Offenheit und Vielseitigkeit ist es il Civetto nämlich, verstanden zu werden. In den Interviews zu »Facing the Wall« (2019) war den Musikern aufgefallen, dass sie ihre Texte immer wieder ausgiebig erklären mussten – und wer will schon Pop-Texte erklären?
il Civetto jedenfalls nicht. Ihre gesellschaftlichen und politischen Anliegen sind ihnen so wichtig wie die Musik selbst. »Themen wie Klimawandel oder Gentrifizierung spielen bei uns automatisch eine Rolle«, sagt Bollinger. »Wir sind politische Menschen, das lässt sich gar nicht von unserer Musik trennen.« Es ging also darum, eine neue Sprache für diese Musik zu finden. In der ersten Single »Rio-Reiser-Platz«, die zu Rio Reisers 25. Todestag erschien, vermitteln il Civetto spielerisch die Grenzmarkierungen aktueller Gentrifizierungsdiskurse zwischen linker Tradition und turbokapitalistischer Gegenwart. Ihrem neuen Album ist außerdem ihre gemeinsame unstillbare Sehnsucht nach der Ferne ebenso eingeschrieben, wie dem großartigen »Neonlicht« der Pop. »Wir haben uns früher nie getraut, uns so klar zu unserer Pop-Leidenschaft zu bekennen«, sagt Lars Löffler-Oppermann. Dass sie diesen Mut jetzt aufgebracht haben, ist gut für uns alle.